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Über kurz und lang?

Blutdruckabfall nach Therapiestart ist wenig aussagekräftig

Das medikamentöse Management der Hypertonie orientiert sich an den Blutdruckveränderungen rund um die Initiierung der Therapie. Dieses Konzept greift offenbar zu kurz, wie die Auswertung zweier Studien verdeutlicht.

Sinkt der Blutdruck rasch nach Beginn einer antihypertensiven Behandlung in den gewünschten Bereich, wird das gemeinhin als zuverlässiges individuelles Ansprechen gewertet. Die große Variabilität des Drucks bleibt damit aber unberücksichtigt, schreiben Dr. Nelson Wang, The University of Sydney, und Kollegen. Das australische Team hat die Daten zweier großer randomisierter Studien – PROGRESS* und ADVANCE** – verwendet, um zu sehen, wie sich die Blutdruckwerte auf längere Sicht einpendeln.

Die Studien hatten eine vier- bzw. sechswöchige Run-In-Phase, in der alle Teilnehmer mit einer antihypertensiven Therapie starteten. Im Verlauf wurden sie auf die Fortführung der aktiven Behandlung oder Placebo randomisiert. Während des Follow-ups von 3,9 bzw. 4,3 Jahren erfolgten regelmäßig Blutdruckmessungen.

In der aktuellen Analyse ging es um den Zusammenhang zwischen Veränderungen der systolischen Werte während des aktiven Run-Ins und vier Endpunkten:

  • Langzeitansprechen, definiert als mittlere Differenz des systolischen Wertes zwischen Verum und Placebo im Follow-up nach Randomisierung
  • Rate an Teilnehmern mit Werten < 140/90 mmHg bei mindestens der Hälfte aller Follow-up-Kontrollterminen
  • Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse und Tod
  • Rate an Therapieabbrechern

Ausgewertet wurden die Daten von 4275 Patienten aus PROGRESS und 6610 aus ADVANCE. Die Forscher teilten die initiale Entwicklung des systolischen Blutdrucks in vier Kategorien ein: Anstieg, Abfall um 0–9,9 mmHg, um 10–19,9 mmHg und um mindestens 20 mmHg. Nach der Run-In-Phase befanden sich in PROGRESS 17 %, 27%, 28 % und 28 % der Teilnehmer in den jeweiligen Intervallen, in ADVANCE 21 %, 22 %, 24 %, und 33 %.

Langfristig gab es in beiden Studien in allen vier Kategorien aber vergleichbare placebokorrigierte Blutdruckreduktionen. Beispielsweise fand sich bei den Gruppen, die initial am weitesten auseinander lagen (Anstieg vs. Abfall ≥ 20 mmHg), kein Unterschied mehr: Die systolischen Werte waren letztlich um 9,7 mmHg vs. 10,7 mmHg in PROGRESS bzw. um 5,9 mmHg vs. 7,6 mmHg in ADVANCE­ gesunken.

Signifikante Unterschiede in den drei anderen Endpunkten fanden sich nicht. Die Autoren folgern daraus, dass direkt nach Therapiebeginn gemessene Blutdruckveränderungen nur begrenzte Aussagekraft und damit einen eingeschränkten klinischen Nutzen haben. Man solle mehr Wert auf langfristige Kontrollen legen.

* Perindopril Protection Against Recurrent Stroke Study
** The Action in Diabetes and Vascular Disease: Preterax and Diamicron-MR Controlled Evaluation

Quelle
Wang N et al. Hypertension 2023; 80:608–617; doi: 10.1161/HYPERTENSIONAHA.122.20458

Kurz kommentiert
Im klinischen Alltag wird immer gefragt, wie schnell man nach dem Beginn einer blutdrucksenkenden Therapie von einem Erfolg sprechen kann. Nicht selten setzt man als Ziel einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen, wobei Fachgesellschaften wie die europäische Hochdruckgesellschaft ESH eine effektive Blutdrucksenkung innerhalb von drei Monaten als relevant erachten.

Die aktuelle Arbeit verdeutlicht sehr gut, dass es wichtig ist, die Wirksamkeit einer Behandlung nach mehreren Wochen zu bewerten. In der Nachanalyse der Studien PROGRESS und ADVANCE zeigte sich, dass die zu beobachtende frühe Blutdrucksenkung keine ausreichende Aussage über die langfristige Effektivität erlaubt. Viele Patienten ohne rasches Therapieansprechen haben im Verlauf noch Vorteile.

Natürlich ist es für die Betroffenen sehr erfreulich, wenn sie schon innerhalb der ersten Wochen einen Erfolg sehen, aber es kann eben auch länger dauern, bis man einen robusten Effekt entdeckt. Die längerfristige Kontrolle ist daher besonders wichtig.

Ihr Prof. Prof. h.c. Dr. Markus van der Giet
Vorstandsvorsitzender Deutsche Hochdruckliga e.V.
Charité – Universitätsmedizin Berlin