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Für Mediziner

Herzrisiko ohne Risikofaktoren?

Der normale Blutdruck bei gesunden Menschen lässt sich detaillierter aufschlüsseln

Wie verhält es sich mit dem kardiovaskulären Risiko innerhalb des normalen Blutdruckbereichs von Gesunden? Auch eine aktuelle Studie aus China kann diese Frage nicht eindeutig beantworten. Es zeichnen sich aber Trends ab, die man bereits bei Menschen ohne Hypertonie berücksichtigen sollte.

Vor 20 Jahren ergab eine Metaanalyse von 61 Kohortenstudien, dass das Herz-Kreislauf-Risiko bereits ab einem Blutdruck von 115/75 mmHg zu steigen beginnt. Und eine kürzliche Auswertung der MESA*-Studie sprach bei gesunden normotensiven Teilnehmern eher für eine „dosisabhängige“ Gefahr als für eine J- oder U-Kurve: Innerhalb systolischer Werte zwischen 90 und 129 mmHg stieg das kardiovaskuläre Langzeitrisiko pro 10 mmHg um 53 %. Dr. Chunpeng Ji vom Kailuan General Hospital in Tangshan und Kollegen wollten herausfinden, ob sich eine ähnliche Assoziation auch in der chinesischen Bevölkerung zeigt.

Die Forscher werteten die Daten von 25.529 Probanden der prospektiven Kailuan-Studie aus (mittleres Alter 47,3 Jahre, 60 % Männer). Initial bestand weder eine Hypertonie noch lagen klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren vor. Anhand des systolischen Blutdrucks zu Studienbeginn wurden vier Gruppen gebildet: 90–99 mmHg, 100–109 mmHg, 110–119 mmHg und 120–129 mmHg. Alle zwei Jahre erfolgten Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus.

Während des mittleren Follow-ups von 10,6 Jahren traten 847 kardiovaskuläre Ereignisse auf. Je höher der Ausgangsblutdruck war, desto größer fiel die Inzidenz pro 1000 Personenjahre aus. Allerdings fand sich in der adjustierten Analyse kein signifikanter Risikoanstieg für die Blutdruckintervalle ≥ 100 mmHg gegenüber 90–99 mmHg. Daran änderte auch die Berücksichtigung von Risikofaktoren, die sich im Laufe der Nachbeobachtungszeit entwickelten, nichts.

Eine Interpolation der Daten ergab eine angedeutete U-förmige Beziehung zwischen kardiovaskulärem Risiko und systolischem Ausgangsblutdruck mit dem tiefsten Punkt bei 110 mmHg. Statistisch signifikant wurde die Kurve jedoch erst ab 125 mmHg. Somit weichen die Ergebnisse von denen der MESA-­Studie ab. Die Autoren führen das u.a. auf die unterschiedlichen Populationen zurück. Verglichen mit der chinesischen Kohorte waren die Teilnehmer von MESA im Mittel etwa elf Jahre älter und die Rate an kardiovaskulären Ereignissen war höher (6,5 % vs. 2,7 %).

Trotzdem kann es sich lohnen, gesunde Menschen im oberen Bereich der Blutdrucknorm im Praxisalltag genauer zu beobachten, schlussfolgern die Kollegen. Denn obwohl Teilnehmer mit Werten zwischen 120 und 129 mmHg keine pathologischen Laborparameter aufwiesen, zeigte sich gegenüber den anderen Intervallen ein Trend hin zu einem ausgeprägteren Risikoprofil (höherer BMI, höheres LDL, niedrigere eGFR, häufiger Prädiabetes).                                                                 

 *multi-ethnic study of atherosclerosis

Quelle
Ji C. et al. J Hum Hypertens 2022; 36: 933-939; doi: 10.1038/s41371-021-00598-1

Kurz kommentiert
Die Studie gibt Auskunft über das kardiovaskuläre Risiko von gesunden Personen mit normalem Blutdruck und ohne bekannte Risikofaktoren. Sie zeigt, dass auf lange Sicht weniger Herz-Kreislauf-Ereignisse auftreten, je niedriger der systolische Blutdruck ist. Zudem scheint das kardiovaskuläre Risikoprofil mit niedrigeren systolischen Werten insgesamt besser zu werden. Ob es bei Gesunden mit einem Blutdruck unter 130 mmHg eine U-Kurve gibt oder nicht, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht sagen. In Zusammenschau mit weiteren Studien gilt meines Erachtens das Prinzip „the lower the better“.

Ihr Prof. Prof. h.c. Dr. Markus van der Giet
Vorstandsvorsitzender Deutsche Hochdruckliga e.V.
Charité – Universitätsmedizin Berlin