Die Diskussion über die optimale Einnahmezeit von Blutdrucksenkern (Antihypertensiva) zeigt wieder einmal, wie gefährlich der unkritische Umgang mit Studiendaten sein kann. Die Daten einer wissenschaftlichen Studie - in 2019 im European Heart Journal publiziert (1) – wurden geradezu begeistert von der Laienpresse in Print- und Onlinebeiträgen aufgenommen und mit reißerischen Überschriften kommentiert, so etwa mit „Blutdrucksenker am Abend halbieren Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko“, „Millionen Deutsche schlucken Blutdrucksenker zur falschen Zeit“, Focus 26.1.2020 “, „dass Blutdruckpillen besser wirken, wenn sie abends, am besten vor dem Schlafengehen, eingenommen werden“, „Studie verrät besten Zeitpunkt, um Blutdrucksenker zu nehmen“. (Focus, T-Online, Stern, Neue Züricher Zeitung, ZDF). Offensichtlich angesteckt davon, wurde dies leider auch in ärztlich geführten Veröffentlichungen übernommen (z.B. Ärztezeitung, Herzstiftung, MMW, apotheken.de), ohne auf mögliche Risiken hinzuweisen, obwohl die zugrundeliegende Studie zu diesem Zeitpunkt in Fachkreisen schon sehr kritisch diskutiert wurde. Dies hat zu teilweise erheblichen Verwirrungen bei Ärzten und Patienten geführt.
Selten hat es weltweit von internationalen Experten so viel kritische Beiträge in internationalen Zeitschriften zu der Publikation im European Heart Journal (EHJ) gegeben. Da die Daten und die Studie insgesamt sehr unglaubwürdig erscheinen, wurde eine Überprüfung der Daten und die Rücknahme der Publikation gefordert. Die Flut an Kritiken hat dann tatsächlich zur Einleitung einer Untersuchung durch das EHJ geführt. Angeblich ergab die Untersuchung keine Hinweise auf eine unzulängliche Datenanalyse. Nun kann man natürlich auch mit gefälschten Daten eine „saubere“ Statistik durchführen.
Die Herausgeber des EHJ scheinen aber selbst nicht ganz sicher zu sein und haben dem Rektor der Universität von Vigo in Spanien – der Institution des Erstautors der Studie Ramon Hermida empfohlen, eine Überprüfung der „Rohdaten“ in naher Zukunft vorzunehmen. Gleichzeitig haben sie aber die Studie erneut wortwörtlich Ende 2020 publiziert. Diese Dreistigkeit ist nicht zu überbieten und hat erneut zu kritischen Kommentare von internationalen Experten geführt.
Warum ist HYGIA unglaubwürdig?
Angeblich wurden mehr als 19.168 Patienten mittels ambulanter Blutdruckmessung über 48 (!) Stunden untersucht. Abgesehen davon dass es technisch eine große Herausforderung ist die Geräte mit entsprechenden Batterien zu bestücken für diese Ultralangzeitmessung, gab es angeblich nur 607 Patienten die zuvor wegen unzuverlässiger Messung ausgeschlossen wurden. Die ambulante Blutdruck-Langzeitmessung (ABDM) wird üblicherweise nur über 24 Stunden durchgeführt und die entsprechenden Norm- bzw. Grenzwerte sind seit vielen Jahren anerkannt:
<130/80 mmHg für den Gesamtmittelwert über 24 Std.
<135/85 mmHg für den Tagesmittelwert und
<120/70 mmHg für den Nachtmittelwert (im Schlaf).
Diese Grenzwerte wurden übrigens erstmalig von der „Sektion Blutdruckmessung“ der DHL in 1995 veröffentlich (2) und gelten heute noch weltweit.
In der HYGIA-Publikation werden unbehandelte (43%) und behandelte Hypertoniker (57%) gemeinsam mit einem initialen Gesamtmittelwert von 131/77 mmHg über 48 Stunden in der Langzeitmessung beschrieben, Tagesmittelwert 136/81 mmHg, Nachtmittelwert 123/70 mmHg.
Wenn man die beschriebenen gültigen Normwerte über 24 Std. berücksichtigt, kann es sich bei den unbehandelten Patienten nur um Menschen mit einem hochnormalen Blutdruck oder nur einer sehr milden Hypertonie handeln und bei den behandelten Hypertonikern muss der Blutdruck sehr scharf eingestellt sein. Anders sind die beschriebenen Mittelwerte nicht erklärbar. Eine Differenzierung der beiden Kollektive (unbehandelt und behandelt) wird nicht präsentiert. Bis heute ist Hermida der vielfachen Aufforderung, unbehandelte und behandelte Hypertoniker getrennt darzustellen und auszuwerten, nicht nachgekommen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Dilemma tatsächlich von ihm auch gar nicht aufzulösen ist – weil die beschriebenen Mittelwerte nicht zu dem Gesamtkollektiv passen können. Und allein auf dieser unglaubwürdigen Datenbasis ist die gesamte Studie bereits unglaubwürdig. Zu kritisieren ist, dass diese unplausiblen Werte den ursprünglichen Gutachtern des EHJ nicht aufgefallen sind.
Bei diesem beschriebenen niedrigen Tagesmittelwert verwundert der hohe Anteil von Patienten mit unzureichender Nachtabsenkung (sog. non dipping) nicht, wenn das übliche Kriterium einer Nachtabsenkung von >10% zugrunde gelegt wird. Je niedriger der Tagesblutdruck umso geringer ist üblicherweise auch die Nachtabsenkung. Streng genommen gilt diese Kalkulation des sog. „dipping-Status“ zur Charakterisierung der circadianen Hypertonieform und des Risikos nur für nicht behandelte Hypertoniker, denn eine deutliche Senkung bzw. Normalisierung eines erhöhten Blutdruckes am Tage mit einer üblicherweise morgendlichen Dosierung wird automatisch die Tag-Nacht-Differenz vermindern.
Eine überschießende Nachtabsenkung des Blutdruckes (sog. over dipping oder extreme dipping) ist in epidemiologischen Untersuchungen gut beschrieben und ist mit einem erhöhten Risiko für nächtliche Durchblutungsstörungen (Ischämierisiko) von Gehirn, Augen, Herz und Nieren verbunden insbesondere im Alter und bei koronarer Hertzerkrankung. In HYGIA wird diese überschießende dipping-Form gar nicht beschrieben. Gefährlich wird es, wenn dann tatsächlich bei allen Hypertonikern alle Blutdrucksenker abends verordnet bzw. eingenommen werden.
Eine wichtige Bemerkung an dieser Stelle: der nächtliche Blutdruck ist definiert als Blutdruck während der Schlafphase und kann entsprechend nur mittels Langzeitmessung ermittelt werden. Mit der Selbstmessung des Blutdruckes in der Nacht kann keine Aussage über den Blutdruck zuvor im Schlaf gemacht werden. Die Selbstmessung findet im Wachzustand statt und ergibt oft erhöhte Werte u.a. auch als Reaktion (sog. Weckreaktion oder arousal) auf sehr niedrige Werte zuvor im Schlaf.
„Wunderbare“ Ergebnisse
In HYGIA wurde den Patienten empfohlen, nach der Ultralangzeitmessung mit den beschriebenen Ausgangswerten anschließend alle Antihypertensiva entweder nur abends oder nur morgens einzunehmen.
Die Ergebnisse hätten „phantastischer“ nicht sein können. Unabhängig von potentiellen Störeinflüssen, etwa dem Alter, dem Geschlecht und den Vorerkrankungen einer Person, schnitt die abendliche Anwendung hochsignifikant – sprich: Zufälle praktisch ausgeschlossen – besser ab. So sollen die Teilnehmer dieser Gruppe nur etwa halb so viele schwere oder auch tödliche Herzkreislaufattacken erlitten haben wie jene, die ihre Tabletten morgens geschluckt hatten. Das galt nicht nur für die Summe solcher Erkrankungen, sondern auch für jede einzelne von ihnen, also etwa für Schlaganfälle, Herzinfarkte, einen plötzlichen Herztod, eine Herzschwäche oder auch akute Arterienverschlüsse in den Beinen.
Verwunderlich sind die großen Unterschiede in der Senkung der kardiovaskulären Ereignisse bei nur geringer Blutdrucksenkung. Insgesamt wurde der 48 Stunden Mittelwert systolisch bei abendlicher Gabe nur 1,3 mmHg (125,6 vs. 124,3 mmHg) und diastolisch um 0,9 mmHg (73,1 vs. 72,2 mmHg) stärker gesenkt bei abendlicher Gabe. Dies führte aber zu einer angeblichen Abnahme der Gesamtereignisse um 42%, der Schlaganfälle sogar um 49%. Dieser große Unterschied lässt sich nur schwer auf die erreichten Blutdruckunterschiede zurückführen. Leider fehlt auch eine detaillierte Beschreibung der Erhebung der Ereignisse und es werden keine konkreten Ereigniszahlen präsentiert und somit auch keine Aussage zur absoluten Risikoreduktion. Eine Auswertung in Untergruppen aufgrund des nächtlichen Blutdrucks hätte bei dieser großen Zahl von Patienten wertvolle Hinweise geben können.
(Die Studie weist eine Reihe methodischer Probleme auf. Sie wurde als PROBE-Studie (prospektiver randomisierter Open-Blinded-Endpunkt) vorgestellt. Es ist aber unklar, auch ob die behandelnden Ärzte nicht wussten, in welche Gruppe die Patienten fielen. Auch ist der Randomisierungsprozess ist unklar)
Die HYGIA-Studie kann somit nicht als Empfehlung für eine generelle abendliche Einnahme aller Antihypertensiva für alle Patienten akzeptiert werden. Dieses Vorgehen gefährdet viele Patienten u.a. durch stumme nächtliche Ischämien. Wenn man die Studie tatsächlich ernst nehmen würde, brauchen wir auch keine ambulante Langzeitmessung mehr über 24 Stunden (bzw. 48 Std!) zur individuellen Beurteilung der circadianen Rhythmik und des individuellen nächtlichen Blutdrucks. Die unkritische Propagierung in den Laienmedien und sogar in einigen medizinischen Zeitschriften hat viele Patienten und Ärzte verunsichert und führt in der Praxis zu erheblichen Problemen.
Eine generelle Empfehlung einer Verordnung von Antihypertensiva zu einer vorbestimmten Uhrzeit beraubt der Langzeitmessung einer ihrer größten Stärken – nämlich der individuellen personalisierten medikamentösen Einstellung. Einer abendlichen Gabe von Antihypertensiva sollte immer eine Langzeitmessung vorausgehen, um Therapie-bedingte nächtliche Ischämien zu verhindern. Auf der anderen Seite sollte der Nachweis einer prognostisch ungünstigen nächtlichen Hypertonie immer zu einer zusätzlichen abendlichen Einnahme von Antihypertensiva führen. Dabei kann es bei einzelnen Patienten sogar sinnvoll sein, verschiedene Medikamente zwischen morgens und abends aufzuteilen (3).
Fazit für die Praxis (3):
Literatur
Autor
Prof. Dr. Martin Middeke, München