Unter 140 mmHg oder doch besser unter 120 mmHg? Diese Frage wird für Hypertoniepatienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko anhaltend diskutiert. Eine aktuelle Studie liefert wieder Argumente für die striktere Senkung.
Zum Thema, ob < 120 mmHg für kardiovaskuläre Hochrisikopatienten günstiger als < 140 mmHg ist, gibt es nur wenig und widersprüchliche Evidenz. Einzig die SPRINT-Studie lieferte klare Belege für einen Vorteil der strafferen Senkung bei diesen Patienten, allerdings waren sie ohne Diabetes und Schlaganfall in der Anamnese. Und in der Studie wurde der Druck unbeaufsichtigt in der Praxis gemessen, was einen möglichen Weißkitteleffekt minderte. Dr. Jiamin Liu vom National Clinical Research Center for Cardiovascular Diseases in Peking und Kollegen haben nun in ihrer ESPRIT*-Studie die Effekte der scharfen Blutdrucksenkung unter normalen Praxisbedingungen untersucht.
11.255 Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko – definiert durch manifeste Herz-Kreislauf-Erkrankung oder mindestens zwei schwerwiegende Risikofaktoren wie z. B. Diabetes, Dyslipidämie oder Rauchen – nahmen teil. Das Durchschnittsalter lag bei 64,6 Jahren, der mittlere systolische Blutdruck bei 147 mmHg. 38,7 % waren Diabetiker, 26,9 % hatten einen Schlaganfall in der Anamnese.
5.624 Patienten erhielten eine intensivierte antihypertensive Therapie mit einem systolischen Blutdruckziel < 120 mmHg, 5.631 die Standardbehandlung mit Zielwerten < 140 mmHg. Der primäre Endpunkt setzte sich zusammen aus Herzinfarkt, Revaskularisierung, Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz, Schlaganfall oder kardiovaskulärer Tod. Im Studienverlauf lag der systolische Druck unter verschärfter Therapie im Durchschnitt bei 119,1 mmHg, unter der etablierten Behandlung bei 134,8 mmHg.
Im medianen Follow-up von 3,4 Jahren betraf der primäre Endpunkt 9,7 % der Teilnehmer aus der Intensiv- und 11,1 % aus der Standardtherapiegruppe (Hazard Ratio, HR 0,88). Ein Diabetes oder die Diabetesdauer hatte ebenso wenig Einfluss darauf wie ein Schlaganfall in der Anamnese. Im forciert behandelten Kollektiv verzeichnete man häufiger Synkopen (HR 3,00), ansonsten gab es keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf schwere unerwünschte Ereignisse (Hypotonie, Elektrolytstörungen, Sturz mit Verletzung, akutes Nierenversagen).
Die Autoren folgern daraus, dass die Senkung des systolischen Drucks auf weniger als 120 mmHg Hochrisikopatienten besser vor schweren kardiovaskulären Ereignissen bewahrt als Werte < 140 mmHg – ohne eine wesentliche Gefahr heraufzubeschwören. Man sollte daher für diese Patienten die intensivierte Therapie in Erwägung ziehen, und zwar unabhängig von einem Schlaganfall in der Anamnese oder einem bestehenden Diabetes.
*Effects of Intensive Systolic Blood Pressure Lowering Treatment in Reducing Risk of Vascular Events
Quelle: Liu J et al. Lancet 2024 Jun3 27; DOI: doi.org/10.1016/S0140-6736(24)01028-6
Kurz kommentiert
Das Rennen, um die Blutdruckzielwerte ist mal wieder eröffnet. Schon seit Jahrzehnten stellt sich die Frage, wie stark bei Patienten mit Bluthochdruck der erhöhte Blutdruck gesenkt werden soll. Ist das Ziel unter 140 mmHg oder vielleicht doch eher unter 120 mmHg? In einer aktuellen Studie aus China wird hier ein interessantes Teil des Puzzles hinzugefügt. In der vorliegenden Open-label-Studie wurde untersucht, ob Patienten mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, definiert als zurückliegendes kardiovaskuläres Ereignis bzw. Vorliegen von mindestens zwei Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse, von einer Blutdrucksenkung mit Ziel unter 120 mmHg systolisch im Vergleich zur konventionellen Blutdrucksenkung profitieren. Es zeigt sich nach ca. 2 Jahren der Beobachtung ein positiver Effekt. Insgesamt, nach 4 Jahren, ist die intensivere Blutdruckeinstellung vorteilhaft. Das Design der Studie erinnert sehr stark an die SPRINT-Studie, mit einem durchaus sehr interessanten Unterschied. In der SPRINT-Studie wurde der Blutdruck mit automatisierter unbeaufsichtigter Blutdruckmessung durchgeführt. Auch hier sah man bei intensiver Blutdrucksenkung einen Vorteil für die Patienten mit Blutdrucksenkung im Bereich von 120 mmHg. Hier wurde viel Kritik geäußert, da die Art der Messung nicht vergleichbar sei mit konventionellen Praxisblutdruckmessungen und damit die niedrigen Zielblutdruckwerte nicht empfohlen werden könnten. In der vorliegenden Studie wurde die von vielen Fachgesellschaften empfohlene Praxisstandardblutdruckmessung (5 min Ruhezeit und dann 3-fache Blutdruckmessung mit einer Minute Abstand) durchgeführt. Auch hier zeigt sich ein Vorteil für Patienten mit einer Blutdruckeinstellung im Bereich von 120 mmHg systolisch bei nicht relevant erhöhtem Risiko für das Auftreten von Nebenwirkungen. Es zeigte sich nur das Risiko für Hyponatriämie signifikant erhöht in der intensiven Behandlungsgruppe. Müssen wir Empfehlungen überarbeiten? In den aktuellen Empfehlungen der europäischen Hochdruckgesellschaft wird allen Patienten mit einem erhöhten Blutdruck und auch höherem kardiovaskulären Risiko bei entsprechender Toleranz eine Blutdruckeinstellung unter 130/80 mmHg empfohlen. Grundsätzlich wird eine Blutdruckeinstellung unter 120 mmHg nicht empfohlen. Man kann festhalten, dass Patienten mit und ohne hohes kardiovaskuläres Risiko prinzipiell durchaus auf unter 130/80 mmHg eingestellt werden sollten. Ein Ziel für optimale Risikoreduktion ist 120 mmHg, sofern der Patient dies auch toleriert. Es scheint hier kein besonderes Nebenwirkungsrisiko zu geben, auch wenn hier die Aufmerksamkeit auf jeden Fall hoch bleiben sollte. Gegebenenfalls gibt es hier aber eher ein praktisches Problem. Der Aufwand, einen Blutdruck für viele Patienten deutlich unter 130 mmHg systolisch einzustellen, erfordert offensives ärztliches Handeln und damit auch eine deutliche Steigerung der Medikation. Dies sollte uns aber nicht davon abbringen, hier alles zu unternehmen, eine gute Einstellung zu erreichen. Eine zentrale Frage stellt sich am Ende. Wie gehen wir mit Patienten mit einem Blutdruck über 130/80 mmHg ohne kardiovaskuläres Ereignis und mit geringem kardiovaskulären Risikoprofil (bis maximal ein Risikofaktor) um? In den bisherigen Leitlinien wird hier keine Therapie empfohlen, sondern vor allem Allgemeinmaßnahmen und eine Therapie erst bei einem Blutdruck über 140/90 mmHg. Diese Frage können wir aktuell nicht beantworten und wahrscheinlich wird diese auch nie beantwortet werden können. Die Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit zur Anpassung der Leitlinien: „Jein“. Patienten mit bereits eingetretenem kardiovaskulärem Risiko und auch mehreren Risikofaktoren sollten bzgl. einer Blutdruckeinstellung ab Werten > 130/80 mmHg bereits zu einer intensivierten Blutdruckeinstellung motiviert werden. Ziel wäre hier ein Blutdruck deutlich unter 130/80 mmHg. Ein Ziel im Bereich von 120 mmHg systolisch ist bei entsprechender Toleranz durch den Patienten sinnvoll. Die Empfehlung, den Blutdruck nicht unter 120 mmHg einzustellen, sollte aufgeweicht werden. Bei entsprechender Aufmerksamkeit können wir für die Patienten das Risiko weiter reduzieren.
Ihr Prof. Prof. h.c. Dr. Markus van der Giet
Vorstandsvorsitzender Deutsche Hochdruckliga e.V.
Charité – Universitätsmedizin Berlin